Leseprobe: Hans A. Wüthrich: Manifest der intellektuellen Bescheidenheit

Leseprobe: Hans A. Wüthrich: Manifest der intellektuellen Bescheidenheit

Der britische Philosoph und Mathematiker Bertrand Russell bringt es auf den Punkt: Es ist ein Jammer, dass die Dummköpfe so selbstsicher sind und die Klugen so voller Zweifel.

Wir leben im Zeitalter der sich selbst überschätzenden Welterklärenden. Im beruflichen Umfeld, in der Gesellschaft und Politik, in den Medien, aber auch im Privaten begegnen wir tagtäglich Schein-Autoritäten, die uns die Welt deuten. Für beinahe alle Probleme kennen sie die Lösung und sie belehren uns, meist im Brustton der Überzeugung, weshalb Dinge nicht funktionieren und wie eine bessere Welt auszusehen hat. Sie kennen die Antworten, bevor die Fragen gestellt sind. Für sie ist es unverständlich und nur schwer zu ertragen, dass andere die Genialität ihrer Deutungen und Lösungen nicht sehen können und wollen. Sie bewerten die eigene Wahrheit als alternativlos und halten es für ihre Pflicht, den andern den rechten Weg zu weisen.

Es ist offensichtlich, dass trotz der lauten Töne der nach Anerkennung und Bedeutsamkeit strebenden Besserwisser, Alleskönner, Entweder-oder-Menschen, Überzuversichtlichen und Oberlehrer in unserer Gesellschaft die Anzahl der ungelösten Probleme nicht ab-, sondern eher zunimmt.

Die irritierende und paradoxe Beobachtung lautet deshalb: Trotz mehr Wissen, mehr ungelöste Probleme!

Wenn wir die Qualität der Problemlösungen verbessern wollen, müssen wir unsere Haltung und unsere Gesinnung ändern! Wir müssen Problemlösung neu denken.

Was wir benötigen ist eine neuartige Qualität von Demut, ich bezeichne sie als intellektuelle Bescheidenheit. Sie konkretisiert sich in Form von fünf zentralen Haltungsprinzipien, die sich zirkulär beeinflussen und bedingen:

  • Realität als Eigenkonstrukt begreifen und Pluralität wertschätzen
  • Let’s agree to disagree – das Abweichende als Bereicherung nutzen
  • Nicht Recht haben müssen und gemeinsam klüger werden
  • Dialog statt Monolog – miteinander (weiter-)denken
  • Unwissen eingestehen und produktiv zweifeln
  • Unbekanntes Unbekanntes bejahen – trügerisches Wissen entlarven
  • Sich experimentell annähern und handelnd ins Verstehen kommen
  • Fragezeichen tiefer setzen – sich emporirren
  • Mainstream misstrauen und Kontraintuitives erproben
  • Komfortzone verlassen – Undenkbares denken

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Leseprobe: Hans A. Wüthrich: Manifest der intellektuellen Bescheidenheit (Forts.)

Die Stärke und Wirkkraft einer im Alltag gelebten intellektuellen Bescheidenheit lassen sich exemplarisch an den erschließbaren «neuen Realitäten» – die heute noch utopisch erscheinen – erahnen.

Stellen wir uns einmal vor, in der Politik fielen die stark populistisch orientierten und rechthaberischen Monologe weg; in den geführten Debatten würde einander zugehört und es bestünde ein ehrliches Interesse, die Ansichten und Ideen des Gegenübers zu verstehen; politische Mandatsträger geständen Nichtwissen und das eigene Überfordertsein ein; die klassischen, auf Interessenvertretung basierenden Parteien lösten sich auf; der Wettbewerb um Deutungshoheit und die Parteiprofilierung wichen einer integrativen Haltung des gemeinsam Klügerwerdens; fixe Parteiprogramme würden durch Politik-Labs ersetzt; vor Entscheiden zu gesellschaftsrelevanten Sachfragen würden politische Experimente initialisiert, um die tieferliegenden Zusammenhänge besser zu verstehen; Gesetze würden auf Zeit erlassen und stets adaptiert; die politische Elite kämpfte nicht mehr opportunistisch um ihre Wählerbasis und wagte Kontraintuitives.

Undenkbar, aber stellen wir es uns einfach vor.

Welches Potenzial bärge diese neue Realität? Wie groß wäre der Einfluss auf die Qualität der gefundenen Problemlösungen?

Oder was könnten beobachtbare Effekte einer gelebten intellektuellen Bescheidenheit in Organisationen sein?

Atypische, nicht der Norm entsprechende Lebensbiografien würden rekrutiert und damit Vielfalt und Diversität verstärkt kultiviert; eine dialogische Diskurskultur ersetzte den macht- und statusorientierten Austausch; Personenzentrierung, Hierarchie und die Monologe der omnikompetenten Silberrücken verlören an Bedeutung, und das Narrativ der Führung veränderte sich radikal; die Führungsaufgaben würden als eine verteilte und kollektive Leistung verstanden; die dezentrale Intelligenz würde genutzt, und durch das vernetzte und gemeinsame Denken fänden sich bessere Lösungen. Organisationen verstünden sich als Labors, in denen experimentiert und Kontraintuitives ausprobiert würde. Undenkbar, aber stellen wir es uns einfach vor.

Im Sinne einer vollendeten Zukunft lautet der merkwürdige und denkanstößige Wunsch für das Übermorgen:

Alle an einer Problemlösung Beteiligten legen den Habitus der Welterklärenden ab und begreifen die Realität als Eigenkonstrukt. Aus dem pluralen Wirklichkeits- und Wahrheitsverständnis entsteht eine befreiende Toleranz, die dazu führt, dass man nicht Recht haben muss.

Somit wird es möglich, in Form echter Dialoge um bessere Lösungen zu ringen und gemeinsam klüger zu werden. Aus dem Nicht-Recht-haben-Müssen und dem produktiven Zweifeln resultiert die Souveränität, Unwissen zu akzeptieren. Das heißt, alle Beteiligten können ihr Nichtwissen und das eigene Überfordertsein eingestehen.

Hieraus entsteht eine Neugier, die Fragezeichen tiefer zu setzen, die Logik des Beobachtbaren zu begreifen und handelnd ins Verstehen zu kommen.

Daraus schöpfen wir den Mut, dem vordergründig Plausiblen zu misstrauen, Kontraintuitives, das heißt dem antrainierten Menschenverstand Widersprechendes, zu wagen und robuste Lösungen für die Probleme dieser Welt zu finden.

DER AUTOR: Hans A. Wüthrich ist emeritierter Professor für Internationales Management an der Universität der Bundeswehr München. Er ist Buchautor, coacht und berät Führungskräfte und Führungsgremien und ist als Verwaltungs- und Stiftungsrat tätig. Unter den Managementforschern gilt er als ein profilierter Musterbrecher.

Dies ist ein Auszug aus dem Buch "MANIFEST DER INTELLEKTUELLEN BESCHEIDENHEIT" von Hans A. Wüthrich. Erschienen im Versus Verlag, September 2023. ISBN: 978-3800670048

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