Leseprobe: Bernhard von Mutius: Über Lebenskunst in unsicheren Zeiten

Leseprobe: Bernhard von Mutius: Über Lebenskunst in unsicheren Zeiten

Zweiter Teil
FINDE SINN!

Weg 1: Ja zum Leben. Trotz alledem

Die Kraft der Vorstellung und der inneren Einstellung.
Die Enttäuschung. Sich nicht abhängig machen.
Die Fähigkeit, sich neu zu erfinden.

Es war vor einiger Zeit in London. Ein Galerist lud John Lennon ein, die Ausstellung einer japanischen Konzeptkünstlerin anzuschauen. Schon einen Tag vor der Eröffnung. Ohne Publikum. John Lennon war zunächst nicht besonders begeistert. Weder von der Künstlerin noch von den Objekten. Dann kam er in einen Raum, da stand nur eine Leiter. War die möglicherweise nicht rechtzeitig weggeräumt worden? Was sollte das?

Als John Lennon näher heranging, sah er: Von der Decke herab hing eine Schnur mit einem Vergrößerungsglas. Jetzt wurde er neugierig. Er stieg auf die Leiter und nahm die Lupe. An der Decke stand ein winziges Wort mit drei Buchstaben, das mit bloßem Auge nicht zu entziffern war: »YES«.

Dieses Wort und dieser Augenblick verwandelten alles. John Lennon verliebte sich in die Künstlerin, in Yoko Ono. Sie verliebte sich in ihn. Ungeplant. Später schrieb sie: »I wasn’t expecting anything. But it worked, didn’t it?!«

Er wiederum berichtete später, in dem Moment sei er irgendwie erleichtert gewesen. Eigentlich hatte er bei einem Objekt zeitgenössischer Kunst etwas anderes erwartet, vielleicht eher ein negatives Wort, »No« oder »Fuck«. Aber das »Yes« habe ihn umgehauen. Eine Leiter und drei Buchstaben. YES .

Dieses Ja lächelt nicht von der Plakatwand. Es hat auch nur entfernte Ähnlichkeit mit den Smileys, deren Versendung uns nicht mal ein Lächeln kostet. Wir müssen uns dazu bewegen, aufstehen, auf eine Leiter steigen, ein Hindernis überwinden. Manchmal ist die Leiter auch ein Berg, der vor uns steht und unüberwindlich scheint. Oder eine Brücke. Damit etwas passiert, müssen wir hinschauen. Nicht mal eben nur vorbeischauen.

Das Positive, das wir bei dem Wort »Yes« in dieser Geschichte noch heute empfinden, hat etwas mit diesem Prozess der Annäherung und des genauen Hinschauens zu tun. Sonst wären es nur tote Buchstaben.

Wir Menschen haben ein besonderes Vermögen dafür. Es hilft uns, Zeichen in etwas Lebendiges zu verwandeln. Es hilft uns, Neues zu sehen oder Neues zu schaffen. Sei es in der Kunst oder in der Schule, in der Familie, in betrieblichen Abläufen oder bei der Erfindung neuer Produkte. Wir nennen es Vorstellungskraft, Imagination.

Außerplanmäßige Begegnungen

Kunst antwortet nicht auf die Frage: »Was will sie uns damit sagen?« Sie sagt etwas. Auch auf die Frage »Was kann ich praktisch damit anfangen?« antwortet sie nicht. Sie durchbricht diese Mechanismen. Wie das Leben. Und die Liebe. Sie durchbrechen unsere Pläne, Einordnungen und Routinen. Sie sind kein Programm, das irgendjemand für uns entwickelt hätte. Das wir in unseren Charts oder Curricula nun nachbauen könnten. Deshalb lernen wir ja auch das Wichtigste für unser Leben in der Regel nicht in der Schule. Auch wenn Lehrplanentwickler das immer wieder hoffen. Und wenn ihre Hoffnung doch einmal in Erfüllung geht, ist es meist eine Überraschung. Es geschieht da, wo die Beteiligten sich lösen vom Vorgegebenen. Wo die Lernenden und die Lehrenden Muster brechen, rausgehen, Rucksäcke packen, sich konfrontieren mit der außerschulischen Wirklichkeit. Und dabei Begegnungen ermöglichen. Manchmal entstehen daraus Beziehungen. Irgendjemand verliebt sich ungeplant. Und das passiert zu allen Zeiten. In Friedenszeiten wie in Kriegszeiten, die in der Geschichte viel häufiger waren.

Muster brechen, wie Margret Rasfeld es immer wieder von Projekten aus der Evangelischen Schule Berlin Zentrum berichtet, wo sie bis 2016 Schulleiterin war, einer Schule mit einem innovativen Bildungskonzept, das auf die Entfaltung von Talenten setzt, auf Verantwortung und auch auf »entrepreneural spirit«. Oder wie Helga Breuninger bei der Arbeit in der Bürgerstiftung Stuttgart. Und Muster brechen heißt: manchem widersprechen, nicht einfach alles hinnehmen, was uns vorgesetzt wird. Von wem auch immer.

Vorstellungskraft

Vorstellungskraft ist nicht stets von Vorteil. Aber sie vermag viel. Was ist Vorstellungskraft? Die Kraft, etwas zu imaginieren, was es bisher nicht gab. Oder was bislang nicht möglich schien. Zum Beispiel wenn die Tochter eines polnischen Molkereibesitzers, der in der Schweiz sein Handwerkszeug gelernt hat, die Produktion probeweise auf vegane Joghurts umstellt. Alle sagen: Die spinnt.

Die Spinnerin heißt Magdalena Kubit. Heute stellt der Betrieb nur noch vegane Joghurts her. Das Unternehmen Jogurty Magda expandiert und exportiert. Es exportiert vegane Joghurts in viele Länder Europas. Auch in die Schweiz.

Ich erzähle diese Geschichte nicht, weil ich Veganer bin. Sondern weil ich die Vorstellungskraft wunderbar finde, die etwas in Bewegung bringt, das vorher undenkbar war. Sie ist die Basis von Innovation und der Gegensatz zur Konvention.

Doch die Vorstellungskraft kann – auch das gehört mit zur Geschichte – in die Irre führen. Menschen können enttäuscht werden. Oft werden Jüngere enttäuscht. Oder fühlen sich enttäuscht. Von den Älteren, die sich das Neue nicht so recht vorstellen können. Oder die mit den Wörtern so hantieren, dass sie vor allem ihnen selbst nutzen.

Es war noch nicht die Zeit für vegane Produkte. Aber manche tierische Gewohnheiten der Erwachsenen fand ich blöd. Und die Geschichten dazu auch. Irgendwann in den ersten Schuljahren der Grundschule bekam ich die Aufgabe, einen Aufsatz über das Schlaraffenland zu schreiben. Wie sich die Erwachsenen das Schlaraffenland ausmalten, wusste ich natürlich. Das leuchtete mir aber nicht ein. Wieso mussten die Leute immerzu faul herumliegen und irgendetwas essen – meistens Tiere, die ihnen gebraten ins Maul flogen? Also malte ich in meinem Aufsatz ein ganz anderes Bild: ein Land, in dem die Luft so nahrhaft war, dass man sich von ihr ernähren konnte. Da konnte man immerzu herumspringen und Neues entdecken. Er hat eine blühende Fantasie, sagten die Erwachsenen und lächelten seltsam.

Zurück zu Yoko Ono und John Lennon. Als sie sich kennenlernten, hatte die Operation Rolling Thunder bereits begonnen. Der Krieg in Vietnam war in diesen Jahren einfach Realität, Normalität. Das musste so sein, hieß es.

Auch in der Schule wurde uns das erzählt. Fast überall konnte man das hören. Viele nickten: Ja, so wird es wohl sein. Auch ich habe dem nicht sofort widersprochen. Vielleicht auch, weil ich mit den US -Boys in Plittersdorf zusammen in der Little League Basketball spielte. Mit einem wunderbaren, glänzenden grünen Trikot, das so anders war als das blasse weiße Hemdchen, das wir in der Schulmannschaft bekamen. Da war der Krieg weit weg. (Wenn man Sport treibt, ist der Krieg oft weit weg.)

Gleichzeitig hatten wir längst begonnen, die Beatles zu hören. Die Stones und viele andere auch. Aber die Beatles waren damals der Maßstab. Ich habe nicht alles recht verstanden, was sie sangen und machten. Auch warum sie sich irgendwann auflösten, habe ich nicht verstanden. Und was John Lennon machte, erst recht nicht. Man muss ihn und Yoko Ono nicht mögen. Aber eines kann man beiden nicht absprechen: Sie hatten Vorstellungskraft.

John Lennon hatte irgendwann, vermutlich inspiriert von Joko Ono, eine völlig spinnerte Idee. Und er wusste es. Das Projekt hieß »Imagine«. Aufgezeichnet im September 1971. Die Vision einer Welt ohne Krieg. So ähnlich wie heute die Vision einer Welt ohne Klimakatastrophen. Was damals als Song und Albumtitel in Tittenhurst Park westlich von London entstand, als Yoko Ono alle Fensterläden öffnete, um Licht hereinzulassen, war dabei eigentlich nur ein Nachgesang der großen Zeit der Beatles. Niemand ahnte zu dieser Zeit, dass dieses Lied einmal so erfolgreich werden würde. Das Magazin Rolling Stone listet es auf Platz drei der 500 besten Songs aller Zeiten. Stell dir vor.

In seinem letzten Interview mit dem Rolling Stone sagte Lennon: »Wir waren nicht die Ersten, die gesagt haben, ›give peace a chance‹, aber wir tragen diese Fackel wie das olympische Feuer und geben sie weiter, von einem Träger zum nächsten, von einem Land, von einer Generation – und das ist unsere Aufgabe. Nicht einfach so zu leben, wie irgendjemand anderes meint, dass es richtig ist – reich, arm, glücklich, unglücklich, lächelnd, nicht lächelnd, mit der richtigen Jeans oder einer falschen.«

»You may say I’m a dreamer
But I’m not the only one
I hope some day you’ll join us
And the world will be as one ...«

Eine Welt ohne Krieg? Das waren Träume. Erwachsene wussten das schon immer. Kurze Zeit später war es vorbei mit den Träumen. Dann fielen in New York fünf Schüsse aus einem 38er Revolver. »Ich bin getroffen«, sollen die letzten Worte von John Lennon gewesen sein. Am 8. Dezember 1980.

Bestelle jetzt deine
Lese-Empfehlungen! 

Und bekomme regelmäßig neue Buchauszüge in dein Postfach

Leseprobe: Bernhard von Mutius: Über Lebenskunst in unsicheren Zeiten (Forts.)


Desillusionierung

Vieles hat sich als Wunschdenken herausgestellt. Die Geschichte ist voll von Enttäuschungen. Nicht erst in den letzten Jahrzehnten. Für die einen sind die Vorstellungen von einer Welt ohne Krieg zerplatzt. Für die anderen die Vorstellungen von einem Sieg westlicher Demokratien. Für wieder andere die Vorstellung von einer Welt ohne Hunger und Armut oder von einer ökologisch intakten Natur.

Die Frage ist nur: Was folgt nach der Desillusionierung. Ein Zurück? Wohin zurück? Fatalismus? Oder Zynismus? Was ist uns wichtig? Was treibt uns an? Was lässt uns hoffen?

Drei Beispiele – bitte ergänzen

Es dauerte mehrere Generationen, die Polis von Athen aufzubauen, die Wiege der Demokratie. Im 5. und 4. Jahrhundert vor unserer Zeitrechnung. Der Peloponnesische Krieg, der mit beispielloser Grausamkeit geführte antike Weltkrieg, machte das Aufgebaute spätestens zunichte. War es das Ende der Geschichte der europäischen Demokratie? Oder vielleicht ihr Anfang? Und wie viele Anfänge sollten noch folgen?

Joseph II. von Österreich verfasste als 22-Jähriger eine Art Manifest der Toleranz und Aufklärung. Sehr zum Leidwesen seiner Mutter Maria Theresia. Der Titel: »Träumereien«. Später hat er versucht, etwas davon in seinem Reformprogramm als Kaiser umzusetzen. Damit ist er in den meisten Punkten gescheitert. Andere haben manches davon umgesetzt. Heute gilt er als einer der weitsichtigsten Monarchen seiner Zeit.

Thomas Jefferson, Gründervater der Vereinigten Staaten, brachte nach einem Besuch in Frankreich während der Französischen Revolution ein paar Gedanken über die Zukunft der Demokratie zu Papier. Dazu gehörte die Idee der Unabhängigkeit der Generationen. Die Erde sollte jeder neuen Generation schuldenfrei und ohne Belastung übergeben werden. War diese Idee nur Utopie oder einfach zu früh?

Was folgern wir?

Die Vorstellungskraft wird im Laufe des Lebens komplexer. Die Realitätsprüfungen werden härter. Wenn es gut geht, helfen uns die Wissenschaft, der Austausch mit anderen und eine lernende, experimentelle Vernunft, zu einer entwickelten Urteilskraft zu finden. Die Träume wachsen nicht mehr in den Himmel. Das Leben wird es schon einrichten.

Das ganze Leben besteht, wenn wir es recht besehen, aus Enttäuschungen. Nur in größenwahnsinnigen Fantasien kommen Enttäuschungen nicht vor. Wäre es anders, gäbe es keinen Liebeskummer. Keine Niedergeschlagenheit. Keine verlorenen Fußballspiele. Keine verlorenen Wahlen. Keine Verzweiflung. Keine Krankheit. Kein Leid. Keinen Blues. Und kein Lernen, keine Innovation, keine kulturelle Evolution.

Stets werden Vorstellungen enttäuscht. Meist weniger schlimm, wenn wir bereit sind, sie zu ändern, weil wir früh gelernt haben, dass Leben komplex und vielfältig ist und dass dies Überraschungen und Veränderungen bedeutet.

Wir können unsere Vorstellungen ändern, anpassen an die veränderte Realität, an neue Systembedingungen. Wenn unsere innere Einstellung stabil und zugleich offen ist. Wenn wir in lebendigen Beziehungen sind und gute Gespräche mit anderen haben. Wenn wir geistig flexibel und unabhängig sind. Oder zumindest versuchen, es zu sein. 

Wir können uns immer wieder neu erfinden

Das war für mich stets unterschwellig so etwas wie ein Lebensmotto: dass wir uns neu erfinden können.

Es ist die Vorstellungskraft, die uns hilft, wieder aufzustehen, herauszukommen aus dem Tal, uns nicht unterkriegen zu lassen. Wir stellen uns, auch wenn wir ganz verzweifelt sind, einen Ausgang vor. Wir sagen »Gute Besserung«. Wir haben Hoffnung. Wir sind ins Gelingen verliebt. Wir stellen uns vor, dass es morgen anders ist als heute. Das gilt für größere Krisen wie für kleinere. Ja zum Leben. Trotz alledem.

Da kommt mir ein anderer Song in den Sinn. Wir haben ihn x-mal gehört. Von Diana Krall oder von Ella Fitzgerald. Ursprünglich ein aufmunterndes Duett, ein gesungenes, witziges und getanztes Zwiegespräch von Ginger & Fred. Pick yourself up:

» FRED:

Please teacher, teach me something.
Nice teacher, teach me something.
I’m as awkward as a camel.
That’s not the worst.
My two feet haven’t met yet.
But I’ll be teacher’s pet yet,
’Cause I’m going to learn to dance or burst.

GINGER:
Nothing’s impossible, I have found.
For when my chin is on the ground,
I pick myself up, dust myself off,
Start all over again.
Don’t lose your confidence if you slip.
Be grateful for a pleasant trip,
And pick yourself up; dust yourself off;
Start all over again.«

Wie ersichtlich geht es um Tanz, um das Ausrutschen und Wiederaufstehen, um das Lernen und Sich-wechselseitig-Motivieren. Und um die Selbstironie. Alles gute Zugaben, auch wenn es um gewichtigere Fragen geht. Vorstellungskraft ist eine biegsame Kraft. Sie kann sich anpassen. Sie kann lernen.

Sie wird nicht gleich klagen oder andere anklagen, sondern zuerst fragen, sich selbst fragen: Haben wir vielleicht etwas übersehen? Was können wir daraus lernen? Wie können wir uns an die neuen Realitäten anpassen? Was können wir künftig besser machen? Welche Alternativen gibt es, die wir bisher noch nicht bedacht hatten?

DER AUTOR: Dr. Bernhard von Mutius ist Sozialwissenschaftler, Philosoph, Strategieberater und Führungscoach. Er arbeitete u. a. für BMW, Google, Siemens und den Club of Rome und hat viele tausende Menschen weitergebildet und inspiriert. Er ist Vorsitzender des „Bergweg Forum Denken der Zukunft“ und arbeitet in mehreren Denkfabriken. 

Dies ist ein Auszug aus dem Buch "ÜBER LEBENSKUNST IN UNSICHEREN ZEITEN" von Bernhard von Mutius. Erschienen im GABAL Verlag Offenbach, März 2023. ISBN: 978-3967391442. 

*Affiliate Link / Anzeige

DIE 99 BESTEN WIRTSCHAFTSBÜCHER

Ich bin Peter Kreuz: Herausgeber dieser Seite, Spiegel-Bestsellerautor und Gründer von Rebels at Work. In meinen Büchern und Vorträgen zeige ich, wie Führungskräfte und ihre Teams erfolgreich durch ein Umfeld der Disruption, Digitalisierung und Komplexität navigieren können und sich fit für die Zukunft machen. Mein aktuelles Buch: Vergeude keine Krise!